Donnerstag, 15. August 2013

Kleine Rückschau




„Die haben da aber nichts zu suchen“, sagt der Beamte an der Passkontrolle mürrisch und nimmt meine Flugtickets aus dem Reisepass. Schlangestehen und Passkontrolle dauern etwa fünf Minuten und meine Koffer rollen bereits auf dem Band, als ich in die Gepäckhalle komme. Effizient, aber nicht gerade herzlich – Deutschland hat mich wieder.

In der Empfangshalle wartet Georg auf mich und als wir uns umarmen, verfliegt die Brasilien-Sehnsucht, die mich im Flugzeug gequält hatte. Draußen jedoch erwartet mich ein Kulturschock: „War es in Deutschland schon immer so leise?“, frage ich Georg. Stuttgart erscheint mir ausgestorben, eine Kulisse ohne Leben. Niemand, der anderen etwas zuruft, auf der Straße Kaffee trinkt, Waren anpreist oder laut Musik hört. Der Bus kommt nach Fahrplan. Beschleunigen in den Kurven und Vollbremsungen: Fehlanzeige.

Die rasanten Busfahrten werden mir zwar nicht fehlen. Anderes aber schon. Zurück zu Hause ist es Zeit für eine kleine Rückschau.

Was ich in Deutschland vermissen werde:

  • dass fremde Menschen mich ansprechen, um über den Verkehr zu lästern, mir ein Kompliment zu machen, mich zu fragen, wo ich herkomme oder um sich über die Kälte (bis 25 Grad) oder Hitze (ab 25 Grad) zu beschweren
  • dass „aber da kenn ich doch niemanden außer dir“ niemals ein Argument ist, nicht auf eine Party zu gehen: Man wird mit Begeisterung und Küssen empfangen und hat bis zum Ende des Abends viele neue Freunde gewonnen (von denen man dann die meisten nie wieder sieht – ein toller Abend war es trotzdem)
  • dass das Meer fast vor meiner Haustür liegt
  • jemandem einen „guten Strand“ zu wünschen oder gewünscht zu bekommen
  • dass das Essen in der Mensa umgerechnet 25 Cent kostet
  • dass der Alltag voller Musik ist: Samba, Forró, Pagode und Capoeira, in Bars, Tanzcafés und spontan auf der Straße aufgeführt
  • dass es einige Lieder gibt, die so zum brasilianischen Kulturgut gehören, dass sie einfach jeder mitsingen kann, auch um drei Uhr morgens nach mehreren Caipirinhas
  • im Seminarraum morgens von den anderen Studenten statt mit müdem Nicken mit frohen Rufen begrüßt zu werden („hallo Leonie!“, „alles gut?“, „um beijo!“)
  • dass die Menschen auf dem Ausblicksfelsen Arpoador in Rio klatschen, wenn die Sonne untergeht

der Arpoador, der die Strände von Ipanema und Copacabana trennt
  • dass ich mir nie unsicher bin, wie ich Menschen in welcher sozialen Situation begegnen soll. Denn alle werden geduzt und zur Begrüßung geküsst, ob Kommilitonen, Lehrende oder Ärzte
  • den Ausruf „Leonie! Que saudade!“, wenn ich jemanden treffe, den oder die ich etwa eine Woche lang nicht gesehen habe
  • den hochgestreckten Daumen als Kommunikationsgeste – in Deutschland ist er einfach zu uncool, in Brasilien immer und überall einsetzbar, als Dankesgeste für eine Information, nonverbale Antwort auf die Frage, wie es einem geht, unterstreichende Geste zum Satz „gut, so machen wir´s“ und so weiter und so fort

Was ich nicht vermissen werde:

  • ununterbrochen erkältet zu sein, weil es draußen heiß ist, in Bussen, Bibliotheken, Supermärkten und Seminarräumen einem aber 17 Grad kalte Klimaanlagen-Luft ins Gesicht geblasen wird
  • dass alles sooo lange dauert, weil die 15 Angestellten miteinander über alles mögliche reden, nur nicht über effiziente Arbeitsteilung (oder sonst irgendetwas, was mit der Arbeit zu tun hat)
  • die Angst im Alltag, etwa davor, im Dunkeln allein auf der Straße zu sein
  • die schwer bewaffneten Polizisten auf dem Campus, vor der Bank, an jeder Straßenecke
  • der Lärm von Schüssen, der mich nachts weckt
  • die Antwort „ja, eins mit Hühnchen“ auf meine Frage, ob es auch ein salgado (frittierte Teigtasche) gibt, das nicht mit Fleisch gefüllt ist
  • SMS zu erhalten, in denen „estou chegando“ steht (ich bin im Begriff, anzukommen) und zu wissen, dass die betreffende Person vermutlich noch nicht einmal aus der Haustür heraus ist
  • dass es in der Mensa jeden Tag Reis mit Bohnen gibt
  • dass meine männlichen Freunde meine Wohnung nicht betreten dürfen
  • die wahnwitzige Bürokratie

Dienstag, 13. August 2013

Letzte Male



6. Monat

Als die Sonne hinter Zuckerhut, Christus, Dois Irmãos und der Pedra da Gavea verschwindet, werden meine Augen ein bisschen feucht. Ich habe den Tag mit Freunden am Strand von Itaipu in Niterói verbracht, von wo aus man einen traumhaften Blick auf Rios schönste Bergformationen hat. In wenigen Tagen verlasse ich Brasilien.

Vieles, was ich unternommen habe in den vergangenen Tagen, habe ich zum letzten Mal getan. Manches auch gleichzeitig zum ersten Mal, denn ein knappes halbes Jahr reicht nicht aus, um alles zu erleben, was Niterói und Rio zu bieten haben.


Rios Felsformationen
Ich habe Caipirinhas am Strand von Charitas in Niterói getrunken mit Pierre und mit Rena, die an diesem Tag Geburtstag hatte. Danach ging es zum Sonnenuntergang herauf zum Parque da Cidade, von wo aus man einen der schönsten Ausblicke auf Rio hat. Der Spruch, dass das Schönste an Niterói der Blick auf Rio ist, trifft schon irgendwie zu. Gleichzeitig ist der Blick von oben, sei es vom Zuckerhut, dem Corcovado, auf dem der Christus thront, oder einer der Favelas, aber auch das Beste an Rio selbst: Von oben betrachtet ist die Stadt einfach die Schönste der Welt.


Vom Stadtpark  fuhren wir zur Cantareira, ein Platz vor dem größten Campus der Uni, der als das Lapa Niteróis gilt. Dort spielte eine Bläserband Songs von Abba, Nirvana und Amy Winehouse, das Publikum grölte die Texte, tanzte und blies Seifenblasen in die Luft.

Konzert auf der Cantareira
Am nächsten Tag standen ein letztes Mal Caipirinhas und brasilianische Musik bei einer befreundeten Jungs-WG in Rio auf dem Programm, danach tanzen in einem kleinen Club mit Balkonen hinaus ins nächtliche Lapa. Am nächsten Tag wieder Lapa, mit Rena und Luis aus Bolivien, bei völlig anderem Ambiente: Ein riesiger Markt in der prächtigen, denkmalgeschützten Rua do Lavradio – stöbern, Andenken kaufen und Maiskolben knabbern.

Bläserkonzert auf dem Markt in Lapa


Capoeira auf dem Markt in Lapa











Auf dem Markt spielte eine Band Capoeira, eine andere Blasmusik, wir ließen uns treiben, liefen zum Strand von Flamengo und betrachteten die Skyline von Niterói. Auf dem Weg Richtung Santa Teresa stießen wir auf einen Samba auf der Straße, tanzten dort ein bisschen, bevor wir in einem romantischen Buch-Café in Santa Teresa Ana und Maria trafen und mit Blick auf Rios Geschäftszentrum ein Forró-Konzert genossen. Maria schob sich durch die Menge, um Getränke zu kaufen, ich bat sie, mir ein Bier mitzubringen. Sie kam mit einer Caipirinha und einem verschmitzten Lächeln zurück: „An deinen letzten Tagen in Rio kannst du doch kein Bier trinken!“ Ein letztes Mal schlief ich bei Ana und ihr auf dem Sofa.

Samba-Konzert
Forró inSanta Teresa
Nach dem Strandtag in Itaipu fahre ich zu Salome nach Fonseca, um mich zu verabschieden. „Du hast eine bewegte Zeit erwischt in Brasilien“, sagt sie zu mir. „Die Copa das Confederações, die Proteste, der Drogenkrieg in Niterói, die Befriedungen in Rio, der Papstbesuch…“ Ich muss ihr versprechen, zurückzukehren. „Wir sind hier wie der Cristo Redentor - mit offenen Armen!“ , versichert sie mir.



Pablo fragt mich, was mir am besten gefallen habe in Brasilien. „Die Offenheit und Herzlichkeit der Menschen“, antworte ich. „Und Portugiesisch zu sprechen im Alltag. Die Schönheit der Natur um Rio herum, kombiniert mit dem Leben in einer Großstadt. Und dass man einen Tag damit verbringen kann, immer dorthin zu gehen, wo gerade Musik gespielt wird auf der Straße.“ Wir erinnern uns an den Tag, an dem er mich vom Flughafen abgeholt hat und meine Versuche, Portugiesisch zu sprechen, für Spanisch gehalten hat. „Als wäre es gestern gewesen“, sagt er und, um mich zu ärgern: „Dein Spanisch ist noch viel besser geworden seit diesem Tag!“


Zu meinem Abschied lade ich meine ausländischen und brasilianischen Freunde ein letztes Mal auf die Cantareira ein. Diesmal unterhält uns eine Roda de Samba, eine der ursprünglichsten Varianten des Samba mit afrikanischen Trommeln. Eine Gruppe von Studenten gibt ihre Künste zum Besten, wer einen Text kennt oder ein Instrument beherrscht, mischt sich unter die Musiker, sodass Publikum und Band miteinander verschmelzen.

Das ist so stimmungsvoll, dass mein Ärger über die Absagen der Mehrheit meiner brasilianischen Bekannten verfliegt (diese erreichen mich in verschiedenen Varianten von „Leonie, heute ist es mir leider unmöglich, es war großartig, dich kennengelernt zu haben, beijos e saudade!“).


Roda de Samba auf der Cantareira
Am Tag meines Abflugs frühstücke ich ein letztes Mal mit Daniel auf seiner Terrasse. „In 30 Stunden bin ich zurück in meinem alten Leben, eine verrückte Vorstellung", sage ich zu ihm. „Auf dem Hinweg war der Weg doch aber genauso kurz“, entgegnet er. „Ja, aber da wusste ich noch nicht, was mich hier erwartet. Jetzt habe ich mir hier ein Leben aufgebaut, das ich zurücklasse und wechsle quasi von einem Alltag in den anderen.“ Jetzt muss Daniel doch zugeben: „Stimmt, das ist eine komische Vorstellung.“

Während des Frühstücks erreichen mich Nachrichten von Menschen, die mir eine gute Reise wünschen. Auch von João, einer der wenigen Brasilianer, der zu meinem Abschied gekommen ist. Er lädt mich in seine Heimat nach Bahia ein und verabschiedet sich mit einem „beijos de saudade“, „sehnsüchtige Küsse“ - was in Deutschland an sexuelle Belästigung grenzt, ist in Brasilien einfach nur nett gemeint. Daniel und ich müssen grinsen. Abends hilft er mir, meine Koffer zum Bus zu schleppen. „Mach´s gut, wir sehen uns in Deutschland“, verabschieden wir uns. Um dann, als die Türen des Busses sich schließen, noch etwas brasilianischer zu werden: „beijos de saudade!“, rufen wir uns lachend zu.

Freitag, 9. August 2013

Cariocas versus Paulistas oder Besuch aus Frankreich


„E ai? Tudo bem? Morgen komme ich in Rio an“, schreibt mir Pierre, ein französischer Freund, den ich während meines Erasmus-Jahres in Spanien kennengelernt habe. Er hatte damals mit zwei Brasilianern zusammen gewohnt und besucht jetzt die beiden und mich in Brasilien. Die ersten Tage hat er in Salvador verbracht und offenbar schon eine Lektion brasilianisches Portugiesisch genossen: „E ai?“ bedeutet übersetzt „und hier?“ und wird im Sinne von „alles klar?“ verwendet. Mögliche Antworten sind etwa „beleza“, was eigentlich Schönheit, in diesem Kontext aber „fabelhaft“ bedeutet und „tudo joia“ (oder „tudo joinha“), alles Schmuck. Fast jede mündliche oder schriftliche Unterhaltung wird mit einem  „e ai?“ begonnen, nach einer kurzen Schweigepause kann es ein Gespräch außerdem zu neuem Leben erwecken.

Da Pierre, wie zuvor Georg, nicht in meiner Wohnung schlafen darf, kommt er bei Bekannten in Rio unter. Dort treffen wir uns und lassen uns den Complexo do Alemão zeigen, Dutzende zusammenhängende Favelas, zwischen denen noch vor wenigen Jahren Krieg herrschte. Jetzt wurden sie im Rahmen der Befriedungen durch eine Seilbahn miteinander verbunden. Im Gegensatz zu anderen Einsätzen, bei denen teilweise kein einziger Schuss fiel, starben im Complexo do Alemão viele Drogenbosse, als die Militärpolizei ihn besetzte. Von oben wirkt der Komplex wie eine ganze Stadt aus einfachen Backstein-Barracken, riesig, unübersichtlich und optimal für Angriffe aus dem Hinterhalt.

Eine der Favelas des Komplexes
Die Seilbahn verbindet die zuvor verfeindeten Viertel










Unsere Führerin Monique kommt aus einer der Favelas des Komplexes. Sie hat Tourismus studiert, ängstlich, niemals einen Job zu finden. Dann besetzte die Befriedungs-Polizei die Favela und jetzt arbeitet sie als Fremdenführerin an ihrem Geburtsort. Kein Wunder also, dass sie begeistert ist von dem Programm. Sie zeigt uns einen neu erbauten Platz mit Kulturzentrum und Sprachschule, den die Bewohner scherzhaft die „Südzone“ des Viertels nennen, in Anlehnung an die wohlhabenden Südviertel Rios wie Copacabana, Ipanema und Leblon. 

„Wenn mich früher jemand gefragt hat, wo ich wohne, habe ich den Namen des Bezirks genannt, in dem meine comunidade liegt, denn ich habe mich geschämt, hier zu leben. Heute sage ich ‚im Complexo do Alemão‘ und die Leute antworten ‚cool, das ist doch der mit der Seilbahn‘“, erzählt sie uns vergnügt. „Comunidade“ heißt so viel wie Gemeinschaft und wird von den Bewohnern der Armensiedlungen dem Ausdruck Favela vorgezogen.

Am Tag nach der Tour reise ich mit Pierre nach São Paulo, viertgrößte Stadt der Welt, in deren Metropolregion 18 Millionen Menschen leben. Ein ehemaliger Mitbewohner Pierres wohnt dort und auch ein weiterer Erasmus-Freund von mir, Fernando. Obwohl wir den Nachtbus nehmen, schaffen wir es nicht, dem Stau zu entkommen: Morgens um 6 Uhr herrscht Stillstand auf der Autobahn. Sieben Millionen Autos schleppen sich auf sechsspurigen Straßen durch diese Stadt, je nach Nummernschild dürfen die Halter an einem Wochentag nicht fahren - Stau gibt es trotzdem immer. Das Verkehrschaos ist eine der hässlichen Seiten São Paulos. Doch die Stadt verfügt über mindestens genauso viele schöne, auch wenn mir die Cariocas vor meiner Abreise das Gegenteil weismachen wollten.

„Du fährst nach São Paulo? Was willst du denn dort? Da gibt es nichts zu sehen außer Straßen und Hochhäuser und die Leute sind immer im Stress“, erklärten sie mir. Aus Sicht der Paulistas hingegen arbeiten die Cariocas nicht und Brasilien wäre schon lange den Bach heruntergegangen, wenn sie nicht für den nationalen Wohlstand schuften würden.

Ausblick vom 38. Stock des Gebäudes der Banespa-Bank
In vielen Vorurteilen steckt ja ein Körnchen Wahrheit. Tatsächlich wird ein Drittel der Wirtschaftsleistung des Landes in der Metropole erbracht und ich bemerke schnell, dass SP (wie die Bewohner die Stadt nennen) einen anderen Rhythmus hat als Rio. Im Restaurant, an der Supermarktkasse und im Museum: Überall geht es viel schneller, denn die Menschen arbeiten zügig, anstatt zu tratschen, zu träumen und zu telefonieren.
In den Clubs der Stadt feiern die Paulistas zu Sertaneja statt zu Baile Funk – und zu Preisen, die mir die Sprache verschlagen. In einem Club, in dem Frauen in knappen Outfits zu einer  Lasershow tanzen, kann man etwa eine Flasche Champagner zum Preis von zwei brasilianischen Monats-Mindestlöhnen erwerben. Pierre erklärt mir, dass er diesen Ort ganz schrecklich findet, aber von einem soziologischen Standpunkt aus betrachtet sehr spannend. Dann betrinkt er sich mit dem etwas bezahlbareren Bier und spricht brasilianische Frauen an. Fernando hatte zuvor behauptet, er müsse nur sagen, dass er Franzose sei, damit es mit den Frauen klappt. Bald zeigt sich allerdings, dass es ganz so einfach dann doch nicht ist.

Sertaneja-Party in Edel-Diskothek

Ganz anders als in diesem Edelschuppen geht es in Fernandos Wohngegend zu. In der Rua Augusta reihen sich Rockerkneipen an Second-Hand-Läden und Galerien. Am Wochenende spielen dort und an anderen Orten des Stadtzentrums Livebands – nordamerikanisch inspirierten Rock und Hip Hop statt Samba und Forró. Das internationale Ambiente spiegelt sich auch in der Gastronomieszene wider: Fernando, Pierre, sein ehemaliger Mitbewohner Bruno und ich essen in japanischen und italienischen Restaurants und trinken in britischen Pubs – in Rio kaum zu finden. Die Rechnung aber erhält immer einer der Jungs, auch wenn ich sie bestelle: Einige Dinge sind auch im europäisch anmutenden São Paulo so lateinamerikanisch wie in Rio.

Dennoch erlebe ich SP als eine ganz besondere Stadt: energiegeladen, international, voller Musik, Kunst und Kultur. In Rio weiß ich bei Regen nichts mit mir anzufangen, in São Paulo ist die Liste der Museen, Kulturzentren, Clubs und spannender Gebäude lang. Außerdem genieße ich es, meine alten Freunde wiederzusehen: mit ihnen ist es, als würde ich ein Stück ehemalige Heimat an einem unbekannten Ort wiederfinden.

Hip Hop im Zentrum von SP
Graffiti-Künstler bei der Arbeit


Von meiner Mutter und einer Freundin hatte ich vor meiner Abfahrt nervöse Mails bekommen – São Paulo hat scheinbar einen noch schlechteren Ruf als Rio, was Gewalt und Kriminalität betrifft. Tatsächlich ist die Kriminalitätsrate in den Favelas am Stadtrand sehr hoch, das Viertel Jardim Angela ernannten die Vereinten Nationen Ende der 90er Jahre zur „gewalttätigsten Region der Welt“ und auch heute noch führt das Gebiet die weltweite Mord-Statistik an. Im Zentrum kriegt man davon aber wenig mit, wegen der hügellosen Geografie der Stadt gibt es dort keine Favelas. Und so fahren wir auch nachts Bus statt Taxi und Fernando erzählt mir, dass ihm in zehn Jahren in São Paulo nie etwas passiert ist. „Ich weiß natürlich, dass am Stadtrand Menschen sterben im Drogenkrieg“, sagt Fernando. „Aber das ist wie aus einer anderen Welt, nicht wie bei dir in Niterói, wo es nebenan passiert.“

Nach drei spannenden und schönen Tagen fahren Pierre und ich zurück nach Rio. Als wir abends um 20.30 Uhr am Busbahnhof in Rios Nordzone ankommen, überlege ich, ein Taxi zu nehmen. Doch ich habe ziemlich viel Geld in São Paulo ausgegeben und der Bus nach Niterói fährt gleich auf der anderen Straßenseite. Also stopfe ich meine Handtasche in meinen Reiserucksack und stecke zehn Reais für den Bus ein. An der Treppe, die zur Überführung auf die andere Straßenseite führt, sitzen einige Obdachlose. Mir wird ein wenig mulmig, doch ich will weder umkehren noch alle Menschen ohne Wohnung unter Generalverdacht stellen und steige die Stufen hinauf.

Einer von den Obdachlosen springt auf, läuft mir hinterher und fordert mich auf, ihm Geld zu geben. „Ich habe nichts“, sage ich verängstigt, er zischt „los, los, her damit“. Ich gebe ihm die zehn Reais aus meiner Hosentasche, er will mehr, droht mir mit weit aufgerissen Augen und aggressiver Stimme und schneidet mir den Weg ab, fasst mich aber nicht an und versucht auch nicht, mir meinen Rucksack wegzunehmen. Nachdem ich etwa fünf Mal „ich habe nicht mehr“ gesagt habe, lässt er mich gehen und ruft mir „danke“ hinterher. Ich laufe mit zitternden Knien über die Überführung und hole meine Handtasche erst im Bus nach Niterói aus dem Reiserucksack. 

War das gerade ein assalto, ein Überfall?, frage ich mich. Oder nur aggressives Betteln? Tatsache ist: Ohne die Drohungen hätte ich dem Mann nichts gegeben. Wie die meisten Brasilianer habe auch ich mich ziemlich abgeschottet von dem Elend, in dem große Teile der Bevölkerung leben. Auch wenn es in Rio so viel greifbarer ist als in São Paulo. Ein unangenehmer Gedanke, der mich noch die ganze Heimfahrt über beschäftigt.